Großartige Entdeckung
Live ist ihre Musik höchst selten zu hören und auch Aufnahmen sind rar: Lili Boulanger, die französische Impressionistin, starb am 15. März vor hundert Jahren. Doch ihr war kein langes Leben beschieden: Geboren 1893 in Paris erkrankte sie mit zwei Jahren an einer schweren Lungenentzündung, von der sie sich Zeit ihres Lebens nicht mehr erholen sollte – mit gerade mal 25 starb sie. Zwischen 1911 und 1918 komponierte sie rund 50 Werke für Klavier, Solostimme und Chor, die ihre tiefe Verwurzelung im christlichen Glauben widerspiegeln.
Das Orpheus Vokalensemble unter der Leitung von Michael Alber und der Pianist Antonii Baryshevskyi haben 15 dieser Musiken ausgewählt: vier Klavierstücke und elf pianobegleitete Vokalwerke, darunter das 1912 entstandene „Hymne au Soleil“, das der CD auch ihren Titel gab. Es ist wunderschöne Musik von so einer fragilen Zartheit wie der Gesundheitszustand ihrer Schöpferin, doch von einem glühenden Optimismus, um den man Lili Boulanger beneidet hätte.
Der Tonträger ist dabei ein Gesamtkunstwerk: Das Cover zeigt das Gemälde „Impression, Sonnenaufgang“ von Claude Monet; und die vertonten Verse französischer Dichter sind bereits in der Übersetzung von einem solchen Wohlklang, dass man sich gar nicht vorstellen mag, wie sehr sie einen Muttersprachler faszinieren mögen. Doch man hat ja die Musik Boulangers, an der man sich gar nicht satthören kann und in der sich verlieren zu dürfen ein Geschenk ist. Zum Glück reizt das Repertoire den Platz auf der CD bis zur letzten Minute aus.
Die Interpretation des grandiosen Chores und der zehn brillanten Solisten aus den Reihen des Orpheus Vokalensembles ist von einer so perfekten und dabei natürlichen Klangschönheit, die vor allem eines ist: ein würdiges Gedenken an die viel zu früh verstorbene Komponistin. Berückende Klangbrechungen, ineinanderfließende Melodien, flächiger Klang, Lautmalereien am Klavier, das Antonii Baryshevskyi als Harfe verkleidet zu haben scheint. Man hört die Musik und versteht den Text, auch wenn man des Französischen nicht mächtig ist, wenn die Sänger den goldenen Himmel in „Soir sur la plaine“ oder die funkelnden Wassertropfen in „La source“ schildern.
Und in das Glück, diese Musik so großartig gesungen hören zu dürfen, mischt sich die bittersüße Melancholie, die einen befällt, bedenkt man, was Lili Boulanger noch hätte schaffen können, wäre sie nicht so früh gestorben – und andächtig lauscht man der zweiten Strophe von „Sous-bois“, in der es heißt: „Warum muss es sein, dass alles erlischt, / dass diese über uns gewölbten Zweige / morgen anderen gewichen sein werden / von der Zeit verwelkt und vertrocknet.“ Fazit: Dass die Künstler dieser Aufnahme sich dem Vergessen entgegenstemmen und Boulangers Erbe so liebe- und kunstvoll pflegen, ist ein unschätzbar großes Verdienst. Diese CD ist eine der Entdeckungen des Jahres – wenn nicht der Jahre.
Hymne au Soleil: Chorwerke von Lili Boulanger | Orpheus Vokalensemble, Antonii Baryshevski (Klavier), Michael Alber (Leitung) | CD Carus 83.489