Hippies, Hamster und Heuschrecken
Marina Lewyckas neuer Roman „Die moderne Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere“ ist eine bissige Abrechnung mit der 68er-Generation und der heutigen Finanzwelt – eine urkomische und nachdenkliche Geschichte um Ideale und ihren lukrativen Verkauf in Zeiten der Krise.
Mit wem möchte man wohl tauschen? Aus altruistischen Gründen vielleicht mit Clara, die in einem der sozialen Brennpunkte Großbritanniens als Grundschullehrerein arbeitet. Oder mit ihren Eltern Doro und Marcus, den einstigen Hippies, die ihre Probleme mit Oolie-Anna, der jüngsten Tochter mit Down-Syndrom haben? Aus rein finanzieller Sicht sicherlich mit deren Bruder Serge, dessen Eltern ihn über der Doktorarbeit in Cambridge wähnen, der aber längst seine mathematischen Fähigkeiten in die Dienste der Londoner Finanzwelt stellt und mit Derivaten und Leerkäufen ein kleines Vermögen anhäuft – illegal zwar, aber eben höchst lukrativ. Außerdem ist er in die schöne Maroushka verliebt.
Man sieht: Marina Lewycka hat mal wieder ein buntes Panoptikum ersonnen, das auf der Bühne dieser modernen Welt eine grandiose Tragikomödie aufführt. Nach „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“, „Caravan“ und „Leben kleben“ ist ihr ein weiterer großer Wurf gelungen: lebhaft und klug erzählt, unterhaltsam und doch auch nachdenklich, denn zwischen den Zeilen wird so manche Lebenslüge ans Licht gezerrt.
Alle Familienmitglieder eint ihre Vergangenheit in der Kommune in „Solidarity Hall“, einer zugigen gotischen Backsteinvilla, einst Herberge des Zechenbesitzers – die Schließung des Werks konnten aber auch linke Geistesströme nicht verhindern. Mit wachem Blick erzählt Lewycka das Leben dort wie auch das in der Gegenwart: Serge versucht alles, um seinen Verrat an der einstigen Ideologie geheim zu halten; Clara hat eine hübsche Wohnung abseits des schulischen Elends; Oolie-Anna will auf eigenen Beinen stehen; ihre Eltern haben sich im Bürgertum wiedergefunden. Und wollen nun heiraten!
In kurzen Kapiteln springt der Roman zwischen den Charakteren hin und her, ohne dabei die Geschichte aus den Augen zu verlieren: Gegenwart und Vergangenheit werden ineinander übergeblendet, um ein düsteres Geheimnis langsam ans Licht zu ziehen. Diese spannende Entwicklung beschreibt Lewycka aus diversen Blickwinkeln und rechnet dabei knallhart sowohl mit der 68er-Bewegung als auch mit einer gierigen Welt gerade in Zeiten der weltweiten Finanzkrise ab. Aber statt den erhobenen Zeigefinger aus einer der ideologischen Ecken zu heben erzählt sie, was Skurriles passieren kann, wenn man Probleme nicht löst, sondern begräbt. Sie zeigt einmal mehr: Das Leben hat immer eine Schaufel zur Hand…
Marina Lewycka: Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere; dtv, ISBN 978-3-423-28006-8; gebunden, 460 Seiten