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Mittler zwischen Welten

Hand aufs Herz: Wer liest heute noch romantische Gedichte, wenn er nicht Germanistik studiert oder von einem humanistischen Lehrplan dazu verdonnert wird? Ein Joseph Freiherr von Eichendorff wäre heute schon längst vergessen, hätten seine Verse nicht die Generation der romantischen Liedkomponisten zu jenen wunderbaren Vertonungen inspiriert, die auch heute noch Sängerinnen und Sänger mannigfaltige Möglichkeiten schenken, die Schönheit ihres Organs zu präsentieren. Ob es ihnen wohl bewusst ist, dass sie mit jeder Interpretation dazu beitragen, dass diese Gedichte erhalten bleiben und auch viele Dekaden nach ihrer Entstehung noch gehört werden?

Der Tenor Georg Poplutz ist sich dieser Rolle ganz sicher bewusst: „Nur über uns die Linde rauscht“ heißt die beim Label Spektral und als Kooperation mit dem Deutschlandfunk erschienene CD: ausschließlich mit Eichendorff-Vertonungen bekannter Komponisten wie Robert Schumann, Hugo Wolf und Felix Mendelssohn Bartholdy sowie seltener musizierter Tonsetzer wie Friedrich Kiel, Robert Franz oder der Schweizer Friedrich Theodor Fröhlich. Und Rudolf Lutz: Der (ebenfalls aus der Schweiz stammende) Liedpianist dürfte vielen vor allem als künstlerischer Leiter der J. S. Bach Stiftung St. Gallen und Dirigent der aktuell wegweisenden Interpretationen des Bachschen Vokalwerks bekannt sein.

Das CD-Booklet informiert, dass das Liedbegleiten eine „stille Leidenschaft“ Lutz‘ sei – zum Glück hat sich der Künstler entschlossen, damit nun an die Öffentlichkeit zu treten. Und das Debüt ist ein Erfolg: Kraftvoll greift er in die Tasten und zimmert mit seinen Melodien gleichsam einen Rahmen für die Leinwand, auf der der Sänger dann das vorgegebene Sujet mit seiner persönlichen Farbpalette abbildet. Dabei gehört dieser „Rahmen“ zum Konzept des Kunstwerks, bestimmt an manchen Stellen die Musik, ist nie Beiwerk.

Mit Poplutz hat Lutz den idealen Begleiter hierfür gefunden: Der Tenor erliegt in keinem Moment der Versuchung, sich und seine Stimme über Gebühr zu produzieren, sondern hält als Pendant des Pianos stets die perfekte Balance zwischen Vokallinie sowie Text und Aussage. Sein Ton ist unaufdringlich und damit umso eindringlicher. Wie Poplutz die Silben aussingt, das Vibrato in feinsten Nuancen dosiert und in der Höhe gänzlich ohne Druck, aber immer strahlend kraftvoll singt, das bringt im Hörer etwas zum Klingen, was den Liedern einen ganz eigenen Nachhall verleiht. Als besonders gelungenes Beispiel sei hier die zutiefst anrührende „Mondnacht“ aus Schumanns Liederkreis op. 39 genannt. Eine Entdeckung ist auch Kiels „Bist Du manchmal auch verstimmt“ – eine Ode an die Violine, die sich auch gegen Katzengeschrei, Hundegebell und meckernde Nachbarn behauptet.

Man hört ausschließlich Eichendorff-Texte – durchaus auch mal die gleichen, aber eben (von Schumann und Mendelssohn oder von Fröhlich und Schumann) gänzlich anders vertont. Die geschmackvolle Auswahl der Gedichte und Komponisten zeigt die Tiefe dieser Verse. Letztendlich geht es auch um die Freiheitsliebe des Individuums, wie man im (leider recht verkopften) Booklettext von Elisabeth Binder lesen kann. Hört man manche Lieder angesichts der eigenen Verbindung mit dem digitalen Heute, erscheinen sie einem seltsam fremd – oder wer verspürt noch das von Wolf besungene „Heimweh nach Deutschland“, wenn er mit dem Zuhause doch auf Knopfdruck binnen Sekunden in Ton wie Bild (und das in HD) verbunden sein kann? Hier obliegt es den Musikern, die Verse ins Hier und Jetzt zu spiegeln, was Lutz und Poplutz in jedem der 35 Lieder individuell gelingt.

Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Vertonungen des Liedpianisten. Abgesehen davon, dass diese neun Lieder – sieben davon in einem Zyklus vereint, der am Ende der CD erklingt – erstmals eingespielt wurden, bleibt Rudolf Lutz stilistisch in der Zeit der Romantik, ohne sich jedoch einem bestimmten Kollegen aus früheren Tagen anzubiedern. Parallelen zu Hugo Wolf sind nur deshalb ohrenfällig, weil drei seiner Lieder direkt vor Lutz‘ Zyklus erklingen. Dankenswerterweise werden Eichendorffs Worte hier nicht durch abstrakte Klänge verfremdet, sondern knüpfen mit einem eigenen neoromantischen Ton durchaus an die Zeit ihrer Entstehung an, was dann behutsam und dadurch umso nachdrücklicher von Georg Poplutz in Szene gesetzt wird. Und das ganz so wie es im ersten Poem „Morgen“ der „Sieben Lieder“ von Rudolf Lutz heißt: „Und sein Hütlein in die Luft / Wirft der Mensch vor Lust und ruft: / Hat Gesang doch auch noch Schwingen / Nun, so will ich fröhlich singen.“ Eichendorff würde heute sicherlich ein „Gefällt mir“ posten.

Nur über uns die Linde rauscht – Eichendorff-Lieder | Georg Poplutz (Tenor), Rudolf Lutz (Piano) | Spektral Nr. SRL 4-22198

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