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Bach pur

Die letzte CD-Produktion des Windsbacher Knabenchores unter seinem Dirigenten Karl-Friedrich Beringer widmet sich dem Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs und hat einen eklatanten Makel: Sie enthält leider nur vier der 199 BVW-Nummern dieses Genres. Mit diesen – Nr. 1, 48, 78 und 140 – jedoch präsentieren die Sänger gemeinsam mit den Deutschen Kammer Virtuosen Berlin und einem Solisten-Quartett der Spitzenklasse nicht mehr und nicht weniger als: Bach pur.

Die Qualitäten von Chor und Orchester sowie den Solisten Sibylla Rubens (Sopan), Rebecca Martin (Alt), Markus Schäfer (Tenor) und Klaus Mertens (Bass) stehen außer Frage und bedürfen an dieser Stelle keines weiteren Lobgesangs. Denn die überzeugende Auslegung der Texte durch die Künstler, der geistige Bogen, den Karl-Friedrich Beringer sowohl in jeder Kantate als auch über alle vier Werke hinweg spannt und mit Transparenz, punktgenauer Intonation sowie feinster Präzision auf vokaler und instrumentaler Ebene ausmusiziert sind nur die eine Seite, die äußere Hülle sozusagen. Sowohl in BWV 1 als auch in BWV 140 ist vom Bräutigam die Rede. Und dieses Bild von der Ehe als engster Bindung, getragen von Liebe, Vertrauen und Gleichklang wird hier musikalisch umgesetzt: Chor und Dirigent, Chor und Orchester, Solisten und Klangkörper, Dirigent und Solostimmen – alle eint und verbindet Bachs Musik sowie deren gemeinsame Aufführung spürbar. So etwas hört man nicht oft – und noch viel seltener auf einem an sich sterilen Tonträger.

„Wie schön leuchtet der Morgenstern!“ Man sieht es förmlich vor sich, dieses Strahlen, wenn die Soloviolinen die Kantate eröffnen und die schlichte Orchestermelodie durch den Einsatz des Chores von funkelndem Glanz erfüllt wird. „Lieblich, freundlich, schön und herrlich“, heißt es da. Und das hört man ohne Showeffekte, dafür aber mit lichter Diktion – den Text sucht man im Booklet vergebens, braucht ihn jedoch auch nicht, um zu verstehen. Tenor Markus Schäfer führt entrückt in die Thematik ein: Es geht um die „Süßigkeit“, um das „Himmelsbrot“. Sibylla Rubens Arie setzt den Text mehr als überzeugend um: Ihr federnder Gesang ist tatsächlich „erfüllet“ von den „göttlichen Flammen“. Ihr Gesang schmiegt sich an die Solo-Oboe, die in ihren Läufen mit kleinen dynamischen Finessen überrascht. Und dann Klaus Mertens: Auch hier wird der „Freudenschein“ Ereignis und der baritonale Glanz des Basses zeugt von einer Gewissheit, die im Verlauf der Kantaten immer wieder aufblitzt. Verspielt singt Schäfer die Tenorarie „Unser Mund und Ton der Saiten“ mit kultivierter Stimmführung und führt die Kantate so einem logischen Ende entgegen, das der Chor erhaben mit dem Schlusschoral gestaltet: „Wie bin ich doch so herzlich froh“. Kein überschwänglicher Jubel, sondern in sich ruhender Ernst in vollendeter Klangschönheit.

Die zweite Kantate der Einspielung (BWV 48) jedoch bricht mit dieser Sicherheit: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“, fragt der Chor mit banger Verzweiflung. Und doch lässt das Dur des Schlussakkords bereits die Antwort ahnen. Zuvor aber steigert sich Rebecca Martin in ein hochdramatisches Rezitativ: „O Schmerz!“ Das ist kein Übergang, das ist die Schlüsselszene, die die Solistin mit einem „brünftig Seufzen“ adelt. Das geht unter die Haut – ein Gefühl, das der Chor mit seinem fatalistischen Choral „Soll’s ja so sein“ noch verstärkt: Die Modulation im Wort „büßen“ gelingt ergreifend. Wie erlösend ist da die feine Leichtigkeit der Alt-Arie. Der Zweifel ist verstummt und im Rezitativ beruhigt Schäfer, verweist auf „Jesu Kraft“ und fasst in der berührenden Arie „Vergib mir Jesus meine Sünden“ erneut Vertrauen. Der Chor schließt mit einem Strahlen, das jeden Schatten ausleuchtet: „Dein bin und will ich bleiben.“

Das ist gleichsam die Brücke zu BWV 78, „Jesu, der du meine Seele“: Feierlich schreitet der Eingangschor einher und das Orchester erweist sich wie in den beiden vorangegangenen Werken als akkurater Klangkörper, bereitet den Vokalisten quasi den Weg. Die Seele wird hier fast schon haptisch aus der Seelennot „heraus gerissen“. Wieder ist es das perfekte Gleichgewicht zwischen Wort und Klang, das einen in seinen Bann schlägt. Im bekannten Duett „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten“, umflattern Rubens und Martin einander und das Orchester, das Dirigent Beringer hier mit leichtem Schwung, ja fast schon Swing agogisch angeregt begleiten lässt. Die folgenden Nummern geraten packend: „Ach, ich bin ein Kind der Sünde“, bekennt Schäfer in seinem erschütternden Rezitativ, das um Erbarmen fleht; in der anschließenden Arie „Das Blut, so meine Schuld durchstreicht“ fängt der Tenor das Sakrament des Abendmahls ein. Begleitet von einer schwerelosen Soloflöte freut sich die Seele über den göttlichen Freispruch. Auch Mertens besingt in seinem Rezitativ äußerst würdevoll das Opfer Christi am Kreuz – dieser Intensität kann man sich kaum entziehen. Die Bass-Arie weist den Weg zum Schlusschoral, der die Spannung zwischen Zweifel und Gewissheit aufnimmt: „Du, du kannst mich stärker machen, wenn mich Sünd und Tod anficht.“ Das letzte Wort heißt „Ewigkeit“ und Beringer lässt es ruhig ausklingen.

Zum Schluss vielleicht eine der bekanntesten Bach-Kantaten mit der Nummer 140: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Schon im Eingangschor lassen die Deutschen Kammervirtuosen gleichsam die Morgenröte aufziehen, bevor der Chor „mit hellem Munde“ seinen Weckruf ertönen lässt. Wieder sind da, diese weit gedachten und vom Chor erfassten Bögen. Und der Lauf des Orchesters treibt den Choral voran, ohne dass Beringer einen unnötigen Geschwindigkeitsrekord aufstellt, sondern auf einen ausgewogenen, durchsichtigen Duktus setzt. Freudig beschwingt stimmt Markus Schäfer sein Rezitativ „Er kommt, der Bräutigam kommt“ an und bittet damit gleichsam Sopran und Bass zu ihrem Duett: Die aufgeregte Seele fragt umflort von vitalen Violinläufen „Wann kömmst du?“ und bekommt die ersehnte Antwort von ihrem Bräutigam Jesus: „Komm, liebliche Seele”. Nach der Choral-Arie des Tenors und dem einladenden Bass-Rezitativ erklingen die Duett-Partner erneut und das in BWV 1 erwähnte „Himmelsbrot“ wird hier zu anmutig besungenen Rosen des Himmels. Feierlich und mit innerem Leuchten statt vordergründigem Pomp erklingt der Schlusschoral: „Gloria sei dir gesungen“ – mit packender Dynamik, die die Aussage unterstreicht.

Zwei Textstellen möchte man als Fazit nochmals anführen: Aus dem Schlusschoral von BWV 140 den Satz „Kein Ohr hat je gehört solche Freude“ und aus BWV 1 „Des klopf ich in die Hände“. Vielleicht auch noch das darauf folgende Wort: „Amen“!

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ – die Kantaten BWV 1, 48, 78 und 140; Windsbacher Knabenchor, Deutsche Kammer Virtuosen Berlin, Sibylla Rubens (Sopan), Rebecca Martin (Alt), Markus Schäfer (Tenor) und Klaus Mertens (Bass); Leitung: Karl-Friedrich Beringer; Sony Classical 88725409732

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