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Echte Neuentdeckungen

Johann Sebastian Bach war ja schon fleißig, was das Schreiben von Kantaten angeht. Weit übertroffen wurde er dabei jedoch von seinem Freund Georg Philipp Telemann: Der hat es auf über 1.700 Stücke dieses Genres gebracht. Ein kleiner Ausschnitt davon ist ediert und beispielsweise mit dem „Harmonischen Gottesdienst“ eingespielt – der Großteil harrt jedoch noch der Veröffentlichung und Entdeckung.

Genau das inspirierte den Dirigenten und Telemann-Spezialisten Felix Koch, hier Pionierarbeit zu leisten: Im Telemann project machen sich nun verschiedene Partner, darunter das Collegium musicum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, das Forum Alte Musik Frankfurt, der SWR sowie der australische Verlag Canberra Baroque daran, einen kompletten Jahrgang Telemannscher Kantaten zu edieren und bei cpo einzuspielen. Jedes Jahr werden mehrere Werke aufgenommen und veröffentlicht, die ersten zehn von insgesamt 72 liegen nun als Doppel-CD vor.

Und auf der gibt es unglaublich viel zu entdecken: Neben dem einmal mehr inspiriert und delikat musizierenden Neumeyer Consort dirigiert Felix Koch mit den Gutenberg Soloists einen zwölfstimmigen Chor, in dem auch die Solisten (SATB) mitwirken. Das eigens für das Telemann project gegründete Ensemble besteht aus jungen, erfahrenen Stimmen, die zusammen mit den Profis indes höchst homogen klingen und die Jahrhunderte lang in den Archiven schlummernden Kantaten geschmackvoll zum Leben erwecken.

Was überrascht, ist die originelle Form, die immer wieder Erstaunliches präsentiert, denn Telemann unterwirft sich in der Gestaltung keinem bestimmten Schema. Man hört natürlich Choräle, doch die werden teilweise in einzelne Verse zerlegt und erklingen dann inhaltlich passend zwischen Arien oder Rezitativen als spannendes Pasticcio. Rasante Chöre, innige Vokalpartien teils im Wechsel mit Solostimmen, ergreifende Arien, in denen Text und musikalische Ausdeutung aufs Engste verzahnt sind – all das sind Alleinstellungsmerkmale dieser Kantaten und Zeichen von Telemanns großem Einfallsreichtum. Musiziert wird kundig, akzentreich, mit großer Transparenz, guter Diktion und einem schlicht wunderbar zusammenspielenden Gesamtensemble.

Der „Französische Jahrgang 1714/1715“ bietet – nomen est omen – nicht zuletzt einen stilistischen Variantenreichtum, für den Telemann ja ohnehin steht. Er paart hierbei Instrumente – beispielsweise wird eine Arie abenteuerlich von drei Fagotten begleitet – oder beschreitet rhythmisch äußerst kühne Wege, wenn er in einer anderen das Orchester gleichsam gegen den Sänger agieren lässt. Dies bietet den durch die Bank herausragenden Solostimmen eine Bühne zum Glänzen.

Als primi inter pares seien die bereits arrivierten Künstler Elisabeth Scholl (Sopran) und Hans Christoph Begemann (Bass) genannt: Zu jeder Aufnahme wird ein „großer Name“ eingeladen – auf weiteren CDs werden unter anderem Klaus Mertens, Georg Poplutz und Andreas Scholl zu hören sein. Dass Felix Koch hier vor allem aber jüngeren Talenten die Gelegenheit zur Profilierung gibt, ist sinnvoll: Mit ihren Arien können sie sich von den x-ten Einspielungen großer Bachwerke abheben und ihre individuellen Qualitäten unter Beweis stellen.

Das einzige, was beim genauen Hören auffällt, ist ein leicht differenter Klang der mit wenigen Monaten Abstand aufgenommenen CDs: Die erste mutet etwas runder und entspannter an, die zweite hingegen schärfer im Ton. Was besser gefällt, ist jedoch reine Geschmackssache.

Sollte das Telemann project in ein paar Jahren die Aufnahmen des „Französischen Jahrgangs“ komplettiert haben und cpo sich dazu entschließen, die CDs als Box herauszugeben, wird derjenige, der erst dann darauf stößt, auf jeden Fall einen unglaublich großen barocken Schatz heben dürfen. Alle anderen können sich schon jetzt auf weitere Doppel-CDs mit zu entdeckenden Telemann-Kantaten freuen – neugierige Lust auf mehr macht diese erste Folge auf jeden Fall.

Georg Philipp Telemann: Französischer Jahrgang 1714/1715 – Complete Cantatas Vol. I | Elisabeth Scholl und Julie Grutzka (Sopran), Rebekka Stolz und Larissa Botos (Alt), Fabian Kelly (Tenor), Hans Christoph Begemann und Julian Clement (Bass), Gutenberg Soloists, Neumeyer Consort, Felix Koch (Leitung) | 2 CDs cpo Nr. 555436-2

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