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Ganz großer Bahnhof

MAINZ (26. November 2010) Man würde auch an seinen Lippen hängen, läse er einzig ein Märchen vor. Doch Geschichtenerzähler Horst Evers ist nicht in der Welt von Rotkäppchen und Frau Holle zuhause, sondern lässt sich von der harten Realität inspirieren. Die allerdings gibt er in feiner vokaler Weichzeichnung wieder – auch in seinem aktuellen Programm „Großer Bahnhof“.

Vorab: Es geht nicht um die Bahn – auf diese Schiene will sich Evers gar nicht erst begeben. Vielmehr nimmt er jenen großen Bahnhof als Redensart ernst und fragt sich, wo man denn heute noch willkommen geheißen wird? „Hier in Mainz immer“, freut sich der Wahl-Berliner über den warmen Empfang im Unterhaus, wo von ihm einmal mehr die feine Geisteswelt des epischen Kabaretts betreten wird: Jochen Malmsheimer, Matthias Egersdörfer, Horst Evers – sie alle wurden dafür hier mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet.

Evers lebt im Hier und Jetzt, das er mit wachem Auge beobachtet. Freilich verschanzt sich der Niedersachse hierfür hinter einem scheinbaren Phlegma, das ihm ermöglicht, das Gesehene und Geschehene aus einer gewissen Distanz zu pflücken und für seine Geschichten zu destillieren. Da Evers seine akribische Beobachtung wie nebenher in ebensolche Worte kleidet, findet sich der Zuhörer inmitten der fast schon plastischen Erzählung wieder.

Da erlebt man Evers frühmorgens am Bielefelder Bahnhof in der Serviceoase eines Baguette-Standes, der von einer Wandergruppe atmungsaktiver Teilnehmer belegt wird, die dem Verkäufer ihrerseits einen meteorologischen Wanderführer aufblättern. Auch hier hört man die aberwitzigen Dialoge, als wäre man live dabei.

Zum Thema Twittern fragt Evers lakonisch: „Was haben die Menschen früher mit dem Erlebten gemacht? Alles Sinnlose in sich hineingefressen?“ Als Gegenbewegung führt er einen Nachbarn an, der alles ungefiltert wie ungefragt in den Hof hinaus plärrt: „Sozusagen analoges Twittern.“ Doch Evers ist kein Technikverweigerer: Er hat eine Kaffeemaschine mit eigener Homepage, die sich schon mal via Mail tolle Zusatzteile wie eine Aroma-Düse wünscht.

„Wenn der Euro mal in Richtung Gulli rollt, dann fällt er auch.“ – Es ist diese fatalistische Ergebenheit, der Evers feinsten ironischen Sand ins Getriebe streut und sie dadurch mächtig ins Knirschen bringt. Das jedoch wird übertönt von jener dionysischen Sprachgewalt: Da fühlt sich Evers im Odenwald „überirdisch verschüttet“ und „diese ganze Zeiteinsparerei“ dauert ihm einfach zu lange. Man wünscht sich einfach ein Stück dieser Gelassenheit, um dem Leben zuweilen eine lange Nase drehen zu können. Wer das nicht schafft, sollte zu Evers ins Kabarett gehen…

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