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Gedanken, die man haben will

MAINZ (19. April 2023). Die Freude, wieder auftreten zu können, ist echt: Von Jess Jochimsen geht an diesem Abend eine Zuneigung aus, die spürbar ist. Denn konnte sich das kleinkunstaffine Publikum in der auftrittslosen Zeit der vergangenen Coronajahre mit Fernsehen, Radio oder YouTube über Wasser halten, war es für Künstlerinnen und Künstler wie Jochimsen schwierig: Er passt nicht in die stromlinienförmigen Formate der gängigen Kabarett- oder gar Comedysendungen. Gut, dass er (wie andere auch) jetzt wieder eine Bühne hat – und ein Publikum: Das kleine Unterhaus ist mitten in der Woche überraschend gut besucht.

Man erlebt eine Sternstunde der Kleinkunst: kluges Kabarett, musikalisch gewürzt und mit deftigen Bildern garniert. Doch dazu später. Denn im Mittelpunkt stehen die Gedanken von Jess Jochimsen. Und die, so lautet der Titel des aktuellen Programms, möchte er selbst manchmal nicht haben. Also gibt er sie dankenswerterweise an sein Publikum weiter. Nicht, dass man an diesem Abend grundsätzlich Neues erfährt, denn wissen tut man vieles natürlich schon. Aber fängt man mit diesen Erkenntnissen auch etwas an? Eben.

Jochimsen sensibilisiert, weist in seinen Sentenzen auf Wesentliches hin, das man zu oft (und vielleicht ja auch gerne) übersieht. Statt innezuhalten und zu reflektieren hetzt man weiter. Corona – war da was? Aber ja: Die Pandemie hat Spuren hinterlassen. Und Opfer gefordert. Wo liegen noch mal Vernunft, Solidarität und Besonnenheit herum? Jochimsen sucht und wird fündig. Und stellt Fragen: Was denkt man, wenn man heute jemanden eine Maske tragen sieht? Angsthase oder Hysteriker? Auf den Gedanken, dass der- oder diejenige vielleicht einfach nur Rücksicht auf andere nehmen möchte, kommt man zugegebenermaßen als letztes. Oder wann hat man je damit gerechnet, dass Themen wie Impfen oder Heizkosten mal zum Smalltalk taugen?

Und was spricht gegen ein Tempolimit – außer die FDP? Man weiß es – und es passiert: nichts. Denn die Gegenwart ist unübersichtlich geworden, Realitäten werden bewusst verschoben. Da tut jemand wie Jochimsen gut (und Not), der sich diesem Stress entzieht und kühl analysiert. Der Kabarettist liebt die Zahlenlehre und das mathematische Denken, das Angst und Verschwörungstheoretiker gleichermaßen in ihre Schranken weist: Es vereinfacht und ist umkehrbar; so kann man Gewissheiten gut auf ihre Substanz abklopfen.

In einem Land, in dem man alles sagen darf, wird der Widerspruch zum Glück lauter. Sätze wie „Man muss nachdenken, was man heute noch sagen darf“, kontert Jochimsen lautstark, dass dies ja wohl bitteschön Voraussetzung sein solle, bevor man überhaupt den Mund aufmache. Hinhören, reflektieren, einordnen: Dieser Künstler nimmt die Aufgabe des Kabaretts ernst und fordert statt Angst vor Veränderung Mut und Kreativität. Und Höflichkeit: Am Büchertisch trägt er später Maske.

Jochimsen ist vielseitig, ein gewinnendes Markenzeichen. Und er hat Rhythmusgefühl, nicht nur im musikalischen Sinn. Seine Lieder sind nolens volens eine leise Reminiszenz an den großen Hanns Dieter Hüsch, wenn er zu Akkordeon- und Gitarrenklängen oder Glockenspiel sinniert: Er singt über den „Tag der geschlossenen Tür“, über Facebook, stimmt den Blues an, greift beherzt in die Saiten. Der Künstler sieht das Absurde im Alltag und spricht es gekonnt an: mal nachdenklich, dann wieder urkomisch wie in seinen Fotos voller Absurditäten, mit denen er das Publikum in die Pause und schließlich den Abend entlässt. Das ist auch auf seiner Website oder in Buchform zu sehen – doch mit Musik unterlegt ist die digitale Diashow live immer wieder ein besonderes Erlebnis. Wie jeder Abend mit Jess Jochimsen.

Termine (und die Bilder!) gibt es auf der Website des Künstlers: https://www.jessjochimsen.de.

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