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Ganz großes Kino für die Ohren

KIEDRICH (11. Juli 2019). Das dürften die altehrwürdigen Mauern des 1136 gegründeten Kloster Eberbach noch nicht erlebt haben: Da singt ein Knabenchor im Rahmen des Rheingau Musik Festivals einen mehrstimmigen Satz des Kinderliedes „Die Affen rasen durch den Wald“! Sie erinnern sich: Es geht da um ein entwendetes Palmgewächs und Urwaldrodung seitens des Primatenonkels. Zuvor erklangen „Die Vogelhochzeit“ oder sogar „De Hamborger Veermaster“ und „Das ist die Liebe der Matrosen“!

Nach kräftigen Regengüssen vorsichtshalber vom Klosterhof ins Innere der Basilika verlegt sang der Knabenchor Hannover hier sein Debütkonzert und stellte ein spannendes und unterhaltsames Volkslieder-Programm vor, das die Jungs unter der Leitung von Jörg Breiding in den Tagen zuvor für eine CD eingesungen hatten. Doch es sind eben nicht die üblichen Verdächtigen à la Silcher & Co, die hier erklingen: In originellen und eigens für dieses Programm komponierten Arrangements singt der Knabenchor zwar Altbekanntes, das aber so, dass es sich eben nicht nur aufpoliert, sondern wie neu anhört.

Die Gäste aus Hannover waren dabei nicht allein, sondern in Begleitung der famosen Bläser von Canadian Brass. Dieses Quintett gehört zum Besten, was man hier derzeit hören kann. Die fünf Herren aus Übersee begleiten den Chor, schaffen elegante Übergänge in den klug zu Potpourris zusammengefassten Themenblöcken und glänzen natürlich auch a chora so brillant, als wollten sie mit ihren (übrigens mit 24 Karat vergoldeten) Instrumenten um die Wette strahlen. Mit großem Spaß und viel Humor spielten sie berührende Versionen von „Amazing Grace“ und „Danny Boy“ sowie Schumanns „Kinderszenen“ op. 15. Doch das großartigste Solo gab Chuck Daellenbach im „Tuba Tiger Rag“, als er sein Instrument ohne es abzusetzen und das Spiel zu unterbrechen einmal im Kreis drehte.

Allein schon der Konzertbeginn war ein kleiner Geniestreich: Der Chor steht bereits auf dem Podest, da ziehen die fünf Bläser mit dem St. Louis Blues von W.C. Handy ein – wohlgemerkt wurde dieses Stück in New Orleans einst zu Beerdigungen gespielt. Doch wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger. Und genau das trifft eben auch auf das Volkslied zu, dem sich der Knabenchor Hannover hier schwungvoll zuwendet. Es fängt ganz klassisch an: „Kein schöner Land“; dann wird’s norddeutsch mit „Dat Du min Leevsten büst“. Da kann Hannes Wader aber einpacken: In einem Arrangement von Oliver Gies singt es der Knabenchor ganz ohne Klampfenseligkeit mindestens ebenso bezaubernd.

Das Geheimnis dieses Programms: Die Arrangements – alle übrigen des Abends stammen von Andreas N. Tarkmann, in früheren Jahren übrigens selbst Knabenchorist in Hannover – sind keine einmal gesetzten Strophenlieder, sondern variieren innerhalb der Versblöcke. Dirigent Jörg Breiding hat hierfür einen treffenden Vergleich formuliert: „Man erzählt ja auch nicht der gleichen Person denselben Witz dreimal hintereinander.“ Apropos Witz: Der blitzt in den verschiedenen Potpourris aus Seemanns-, Tier- und Handwerksliedern an unglaublich vielen Stellen auf. Mit Verve singen die Jungs von Piraten und Matrosen, von Hunden und Katzen, von Schneidern und Müllern.

Das letzte Potpourri beginnt übrigens sehr vielsagend: „Wer will fleißige Handwerker seh‘n, der muss zu uns Kindern geh’n“. Und die wohnen in diesem Fall in der niedersächsischen Landeshauptstadt: Beim Knabenchor Hannover sind Intonation und Diktion perfekt, alle Sänger sind mit den Augen stets bei ihrem Dirigenten, der seine Jungs wiederum zur Höchstleistung anfeuert. Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich: Dieser Chor gehört mit zum Feinsten, was die deutsche Knabenchorlandschaft aktuell zu bieten hat.

Natürlich haben die Arrangements nicht den Anspruch der Bach-Motetten (die man mit diesem Chor übrigens auch mal gerne hören würde) und zuweilen spielt das Programm thematisch ins Kindlich-Naive. Doch geschieht dies ganz bewusst: Die Lieder erscheinen nicht nur demnächst bei Carus auf CD, sondern auch als Notenbuch im höchst löblichen Liederprojekt des Verlags. Alle Verantwortlichen erhoffen sich, dass diese Arrangements dann von möglichst vielen Chören gesungen werden – gerade auch aus dem Bereich der Laienensembles und Kinderchöre!

In Kloster Eberbach stieß dieser Wunsch schon mal auf offene Ohren: Als Jörg Breiding nach der Pause kurz davon berichtete (wie zuvor in seinen Begrüßungsworten Christian Fuchs vom Festival) brandete zweimal Szenenapplaus auf. Gerne folgte das Publikum denn auch der Einladung, zu Beginn des zweiten Teils gemeinsam mit dem Chor den Kanon „Gute Nacht, gute Ruh“ zu singen. Und das Auditorium machte wunderbar mit: Keiner sang nach dem Abschlag des Dirigenten weiter.

Einziger Wermutstropfen des Abends war eigentlich nur die Pause: Sie kappte die knisternde Spannung des ersten Teils, so dass die Musiker unverschuldet Mühe hatten, die ursprüngliche Intensität wiederaufzubauen. Und das wäre sicherlich noch schneller gegangen, hätte man das Abendlieder-Potpourri (das letztendlich doch noch den Titel „Romantische Chornacht“ rechtfertigte) nicht vor den Handwerker-Liedern gesungen. Doch angesichts der außerordentlichen Leistung der tollen Sänger und Bläser sei dies nur nebenbei angemerkt.

Letztendlich bleibt das Staunen, welche Schönheit diese Jungs selbst einem Lied wie „A, B, C, die Katze lief im Schnee“ verleihen können. Mit großer Literatur zu glänzen ist sicherlich schwer genug; aber gerade auch dem Einfachen musikalisch Tiefe zu verleihen ist mindestens eine ebenso große Kunst. In Kloster Eberbach war das Publikum jedenfalls gänzlich aus dem Häuschen und klatschte, als wäre es auf der Suche nach einer Kokosnuss …

[Foto: Nils Ole Peters]

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