» Musik

Es muss nicht immer Kaviar sein

WIESBADEN (11.März 2023). Für viele gehört eine der Passionen Johann Sebastian Bachs einfach dazu – genau wie sein Weihnachtsoratorium. Angesichts der Genialität dieser Musik ist gegen solche Traditionspflege auch gar nichts einzuwenden. Wobei Bach ja nicht der Einzige war, der Passionen schrieb! Und weil Monokultur nie eine in letzter Instanz sinnvolle Angelegenheit darstellt, ist es mehr als zu begrüßen, wenn Kantoren auch mal abseits der bekannten Pfade wandeln: so wie Clemens Bosselmann, der mit der Schiersteiner Kantorei jetzt die Matthäuspassion von Gottfried August Homilius (1714-1785) aufführte.

Der Chor ist bestens vorbereitet und glänzt in den Chören und Chorälen mit akzentuierter Sprache, Transparenz und Homogenität. Warum Bosselmann die ersten drei Strophenlieder ohne logische Überbindungen singen lässt, irritiert anfangs leicht; der Eindruck verblasst jedoch bald durch die kunstvolle Gestaltung der Choräle im Folgenden. Im informativen Programmheft findet sich auch ein Interview mit dem Dirigenten, in dem er unter anderem davor warnt, Homilius mit Bach zu vergleichen. Tatsächlich mag der Hörer zu Beginn leicht verunsichert sein, weil er die Matthäuspassion ja von Bach her kennt und nun den Text gänzlich anders vertont hört. Homilius‘ Oratorienton erinnert eher an Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel, mit dem er das Geburtsjahr teilt: Es ist ebenfalls „Musik dazwischen“.

Die aber bringt Bosselmann mit seinen Musizierenden in der Marktkirche derart zum Klingen, dass man das Vergleichen bald aufgibt und die noch unbekannten Klänge einfach genießt. Daran hat auch das Barockorchester La Vivezza Anteil (bei dem die beiden Naturhörner stellvertretend hervorgehoben seien). Das auf historischen Instrumenten delikat musizierende Ensemble verleiht der Handlung einen farbenfrohen Hintergrund, auch wenn Homilius die Worte Jesu (ansprechend gestaltet von Bass Frederic Mörth) nicht wie Bach mit einem Glorienschein der Streicher unterlegt. Ein weiterer spannender Unterschied sind die textlichen Übergänge: Folgen bei Bach Choräle auf Stichwortanschlüsse aus den vorigen Szenen, platziert Homilius diese in den Arien, auf die die folgenden Rezitative dann reagieren. Durch diese Vorwegnahme wird die Handlung dramaturgisch vorangetrieben.

Auch die weiteren Solisten des Abends sind handverlesen. Seine Verbundenheit mit der Kirchenmusik der Schiersteiner Kantorei (deren Förderverein er als Schirmherr begleitet) dokumentiert einmal mehr Klaus Mertens: Der Bass, dessen Stimme einfach alterslos scheint und wie seit eh und je so faszinierend einfühlsam und prägnant strahlt, sang die (mit einer CD-Produktion verbundene) Erstaufführung dieser Musik bereits vor 30 Jahren. Und auch in diesem Konzert hat man vor allem bei diesem Künstler nichts dagegen, dass Homilius jede Arie als Da-capo-Stück konzipierte: Mertens könnte man schlicht stundenlang hören.

Was an diesem Abend ausnahmslos auch für die anderen Solistinnen und Solisten gilt. Der Sopran Helena Bickels beeindruckt mit federnder Präsenz und klingt auch in lichten Höhen einnehmend leicht. Altus Jean-Max Lattermann hat leider nur eine Arie zu singen, die vorletzte: „Es ist vollbracht“. Mit eindringlichem Timbre gibt er den optimistischen Gehalt seiner Partie glaubwürdig und plausibel wider. Die persönliche Neuentdeckung des Abends ist der Tenor Gabriel Sin, der so kraftvoll intoniert, dass er einen bereits mit der ersten Note packt und in seinen Bann zieht.

Georg Poplutz singt den Evangelisten wie immer geschmackvoll und mit der perfekten Balance zwischen echter Anteilnahme und Distanz des Berichterstatters. Die gibt er allerdings kurzzeitig komplett auf, als es um die Schilderung der Kreuzigung geht: Deren Bedeutung schildert der Tenor eindringlich und ergreifend – manchmal wird eben auch ein „Reporter“ vom Gegenstand der Berichterstattung übermannt.

Fazit: Das Sprichwort, dass auch andere Mütter schöne Töchter haben, lässt sich auch auf die noch unentdeckte Vielfalt Alter Musik anwenden. Vielleicht mag sich hier manches oberflächliche Glitzern als Katzengold erweisen. Die Matthäuspassion von Gottfried August Homilius gehört sicherlich nicht dazu, sondern erweitert den Horizont – vor allem, wenn sie so engagiert und überzeugend musiziert wird wie an diesem Abend.

zurück